TAGUNG

 

TAGUNG
Grenzüberschreitungen. Der alemannische Raum - Einheit trotz der Grenzen? 

Symposion des Alemannischen Instituts Freiburg und der AG Kultur der Randenkommission in Kooperation mit dem Hegau-Geschichtsverein, dem Historischen Verein Schaffhausen, der VHS Konstanz-Singen und der Stadt Singen

Termin: 12.-13. März 2010 im Bürgersaal des Rathauses Singen/Htwl.

Politische Grenzen, Sprachgrenzen und natürliche Barrieren gehören wohl zu den augenfälligsten Manifestierungen von »Grenze« in unserer Umwelt. Politische und natürliche Grenzen durchziehen den alemannischen Raum in reichem Maße, doch gilt er traditionell vor allem als weitgehend einheitlicher Sprachraum. Die deutschsprachige Schweiz, Vorarlberg, Teile der Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern und das Elsass gehören dazu. Schwarzwald, Bodensee und Rhein, ferner Nationalstaats- und Regionsgrenzen untergliedern den Raum. Damit liegt es nahe, im alemannischen Raum nach Vor- und Nachteilen, Einschränkungen und Chancen durch Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen zu fragen.
Das Programm des Symposiums nähert sich diesen Fragestellungen unter den verschiedenen Perspektiven mehrerer Fachdisziplinen an. Die drei inhaltlichen Schwerpunkte der Tagung befassen sich mit dem Begriff der Grenze, mit dem individuellen Erleben von Grenzen und mit Grenzüberschreitungen in Wirtschaft, Politik, Sozialem und Kultur. Welche Grenzen spiegeln eine räumliche Realität wider, was davon ist mentales Konstrukt? Welche haben Bestand? Wann sind
Grenzen von Vorteil? Und:Werden wir glücklicher sein, wenn alle Grenzen abgeschafft sind? Aber vielleicht ist es gar nicht notwendig, die Grenzen aufzuheben.
Die Diskussionsrunde am Freitag fragte, wie es um die alemannische Identität steht. Reicht sie aus, um die Menschen diesseits und jenseits des Rheins und rund um den Bodensee zu einer Region - über nationale Grenzen hinweg - zu verbinden?  

Tagungsbericht

Vom 12.-13. März 2010 fand in Singen die Tagung „Grenzüberschreitungen. Der alemannische Raum - Einheit trotz der Grenzen?" statt. Die Tagung wurde konzipiert und geleitet von einem interdisziplinären Team aus Historikern und Geographen bzw. Raumplanern (Wolfgang Homburger, Wolfgang Kramer, R. Johanna Regnath und Jörg Stadelbauer), und war in drei Panels gegliedert: 1. Grenzen - ein offenes Feld, 2. Grenzschicksale, 3. Ende der Grenzen?
Voraus ging eine Einführung durch den Historiker Dieter Geuenich, in der er die Forschungsansichten über die (frühen) alemannischen Sprach- und Stammesgrenzen in Frage stellte. Die Alamannia werde erst als Provinz des Frankenreichs wirklich fassbar, die entstehende Verkehrs- und Sprachgemeinschaft sei vor allem durch das Bistum Konstanz, die Klostergründungen und das Herzogtum Schwaben geprägt worden. „Stammesgrenzen", also ethnische Grenzen aus der Zeit davor hält er für nicht belegbar.

I. „Grenzen - ein offenes Feld" mit Karl Heinz Hoffmann und Prof. Dr. Jörg Stadelbauer
Die erste Sektion richtete den Blickwinkel auf Grenzen in der geographischen Forschung und die Auswirkungen von Grenzen auf die raumplanerische Arbeit am Beispiel der Region Hochrhein-Bodensee. Der Freiburger Geograph Jörg Stadelbauer ging der Frage nach, ob Grenzen eine räumliche Realität widerspiegeln oder ein mentales Konstrukt sind. Er betrachtet Grenzen als Konstrukte, die politisch und wirtschaftlich wirksam sind und letztlich auf einen Ordnungswunsch zurückgehen. Politische Grenzen schaffen einen souveränen Raum, einen Sicherheitsbereich mit bestimmten rechtlichen, steuerlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen.
Der Verbandsdirektor des Regionalverbands Hochrhein-Bodensee, Karl Heinz Hoffmann, sieht in der Grenze eine notwendige Herausforderung für die Neugierde und Grenzräume als Räume mit besonderen Chancen. Gemeinsame Projekte sind Anlässe zur Kommunikation, doch besteht die Gefahr, dass nur nach Win-Win-Situationen gesucht wird und die eigentlichen Konflikte ausgeklammert werden.

II. „Grenzschicksale" mit Jörg Krummenacher, Meinrad Pichler und Marcel Spisser
Im zweiten Schwerpunkt ging es unter der Überschrift „Grenzschicksale" um das individuelle Erleben von Grenzen in der Geschichte. Der St. Galler Journalist und Autor Jörg Krummenacher sprach auf der Basis seines Buches „Flüchtiges Glück" über Flüchtlingsschicksale in der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus. Meinrad Pichler aus Bregenz berichtete über die Bestrebungen der Vorarlberger im Jahr 1919, sich an die Schweiz anzugliedern. Eine Volksabstimmung gab mit 80 % der Stimmen ein deutliches Votum für eine Verhandlungsaufnahme. Es ist bis heute eine offene Frage, ob es sich dabei eher um eine „Herzensangelegenheit" oder um eine „Frage des Magens" handelte. Die Schweizer blieben eher reserviert und die alliierten Siegermächte beendeten alle Bestrebungen. Geblieben ist das abschätzige Wort vom „Kanton Übrig".
Marcel Spisser, Vorsitzender des Fördervereins des Mémorial d'Alsace-Moselle in Schirmeck, erzählte lebendig über die Grenz- und Lebenserfahrung der Elsässer, die aufgrund der wechselnden Staatszugehörigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich seit 1870 individuell, sehr persönlich und oft schmerzhaft Grenze erlebten und deshalb oft „nicht mehr wissen, wer sie sind".

Die Abendveranstaltung am Freitag war öffentlich und wurde durch einen Vortrag des Konstanzer Stadtarchivars Jürgen Klöckler über „Grenz(t)räume in Alemannien nach 1945" eingeleitet. Pläne, nach 1945 einen übernationalen „alpenländischen Bund" (Bernhard Dietrich) oder eine „schwäbisch-alemannische Demokratie" (Otto Feger) zu schaffen, fanden weder in der Schweiz einen Widerhall, noch wurden sie von der französischen Besatzungsmacht gut geheißen. Hintergrund für diese Ideen war eine „Renaissance des Föderalismus", die als Reflex auf das Dritte Reich und den auf Berlin ausgerichteten Zentralismus zu deuten sei. An der anschließenden Podiumsdiskussion nahmen teil: Prof. Dr. Dieter Geuenich, Dr. Dr. André Moosbrugger, Klaus Poppen, Dr. Sven von Ungern-Sternberg. Moderation: Jochen Kelter.

III. „Ende der Grenzen?" mit Prof. Dr. Helen Christen, Andrea Fritsche, Lic. phil. Adrian Knoepfli, Martin Graf, Prof. Dr. Max Matter, Lucia Studer und Dipl.-Ing. Christoph Trinemeier.
Der dritte Abschnitt beschäftigte sich mit Gegenwartsthemen und der Frage, ob ein „Ende der Grenzen" erreicht oder zumindest in Sicht ist. Den Morgen eröffnete der Wirschaftshistoriker Adrian Knoepfli (Zürich) mit einem Beitrag über Grenzüberschreitungen in der Wirtschaft. Dabei diente die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrer weitgehenden Freizügigkeit als Folie. Der Grenzraum war integriert und die Bewegungsfreiheit über die Grenze hinweg war so groß, wie sie bis heute nicht wieder erreicht ist. Nationalisierung und Desintegration in der Zwischenkriegszeit brachten dann einen Bruch, der bis in die Nachkriegszeit andauerte. Erst mit dem Wirtschaftswunder nach 1945 normalisierten sich die Beziehungen. Heute ist Deutschland der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Doch bis jetzt existiert der Zaun - vor allem in den Köpfen.
Der Beitrag von Christoph Trinemeier über die Metropolregion Rhein-Neckar musste bedauerlicherweise kurzfristig ausfallen.
Die Soziologin Andrea Fritsche und die Betriebswissenschaftlerin Lucia Studer referierten auf der Basis ihres gemeinsamen Forschungsprojekts zu Grenzüberschreitung im Bodenseeraum aus dem Jahr 2008. Einerseits konnten sie eine „empfundene Einheit" konstatieren, die mit einer gefühlten Mentalitäts- und Sprachverwandtschaft einhergeht. Andererseits wurde deutlich, dass der Bodensee als Barriere fungiert. Durch Statistiken und Umfrageergebnisse fundiert loteten sie aus, wie offen die Räume rund um den Bodensee wirklich sind.
Dem schloss sich ein Vortrag des Freiburger Volkskundlers Max Matter über Migration und Überfremdungsangst in der Schweiz an. Auf der einen Seite nannte er Ängste, die auf Konkurrenz zurückgehen: Die oft hochqualifizierten deutschen Zuwanderer werden nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch in Bereichen wie dem Wohnungsmarkt als Konkurrenten empfunden. Daneben gibt es subtilere Konfliktfelder, zum Beispiel im Kommunikationsverhalten, in dem sich die Schweizer deutlich zurückhaltender und indirekter zu äußern gewohnt sind als die eher forsch auftretenden Deutschen.
Den Bereich Sprache beleuchtete die Linguistin Helen Christen aus Freiburg im Üchtland. Die Einteilungen in der Dialektologie gehen oft auf vorsprachliche Kategorien zurück, denn die Sprache selbst ist ein Kontinuum. In der Schweiz werden oft die Kantone zur Kategorienbildung benutzt. Direkt auf der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz liegen keine Isoglossen, die unterschiedliche Ausprägungen von Sprachmerkmalen anzeigen würden, aber dennoch gibt es das Gefühl einer Sprachgrenze. Mehr als der Dialekt an sich trennt hier seine unterschiedliche Verwendungsweise. Dialekträume werden von Laien anders definiert als von Experten, entsprechend sieht die Sprachkarte auf der Seite der alemannischen Wikipedia ganz anders aus als die Karten von Dialektologen. Ob und mit welchen Gründen jede dieser Grenzziehungen gerechtfertigt werden kann, ist zu diskutieren.
Einen fulminaten Schluss bildete der Beitrag des elsässischen Journalisten und Kabarettisten Martin Graff. Er brachte die Problemlage nicht nur mit dem Satz „Die Alemannen sind die Kurden Westeuropas" auf den Punkt, sondern plädierte mit viel Witz und Herzblut für ein mutiges Grenzgängertum.
Das Symposion war eine Gemeinschaftsveranstaltung des Alemannischen Instituts und der Arbeitsgemeinschaft Kultur der Randenkommission, einem informellen Zusammenschluss des Kantons Schaffhausen und der Landkreise Konstanz, Schwarzwald-Baar-Kreis und Waldshut. Als weitere Kooperationspartner fungierten der Hegau-Geschichtsverein, der Historische Verein Schaffhausen, die VHS Konstanz und die Stadt Singen. Eine Veröffentlichung ist geplant.

(Autorin des Berichts: Dr. R. Johanna Regnath)

Übersicht der Beiträge:
Prof. Dr. Dieter Geuenich, Freiburg: Alemannische Sprach- und Stammesgrenzen. Ein kritischer Rückblick

I. Grenzen - ein offenes Feld
Prof. Dr. Jörg Stadelbauer, Freiburg: Räumliche Realität oder mentales Konstrukt?
Grenzen in der geographischen Forschung
Karl Heinz Hoffmann, Waldshut-Tiengen: Grenzenlos glücklich? RegionalPlanen in der Region Hochrhein und Bodensee

II. Grenzschicksale
Jörg Krummenacher, St. Gallen: Die Schweizer Grenze und der Tod. Flüchtlingsschicksale im Nationalsozialismus
Meinrad Pichler, Bregenz: Vergebliches Werben. Vorarlberger Anschlussbestrebungen
an die Schweiz 1918/19
Marcel Spisser, Straßburg: Le Mémorial de l'Alsace-Moselle. Ein Erinnerungsort zum Verständnis der Vergangenheit und zum Aufbau einer gemeinsamen Zukunft

Der alemannische Raum - Einheit trotz Grenzen? Öffentliche Abendveranstaltung
Dr. Jürgen Klöckler, Konstanz: Grenz(t)räume in Alemannien nach 1945.
Podiumsdiskussion mit Prof. Dr. Dieter Geuenich, Dr. Dr. André Moosbrugger,
Klaus Poppen, Dr. Sven von Ungern-Sternberg, Moderation: Jochen Kelter

III. Ende der Grenzen?
Lic. phil. Adrian Knoepfli, Zürich: Wie hoch ist der Zaun? Grenzüberschreitungen der Wirtschaft
Andrea Fritsche und Lucia Studer, Wien und Blons/Vorarlberg: Grenzüberschreitungen in der Bodenseeregion. Regionsspezifische Mobilitätsmuster und das Potenzial von Partizipation für Regionalbewusstsein
Prof. Dr. Max Matter, Freiburg: Migration und Überfremdungsangst in der Schweiz. Zur Sicht der Schweizer auf deutsche Zuwanderer
Prof. Dr. Helen Christen, Freiburg/CH: Sprachen, Grenzen und Identität
Martin Graff, Soultzeren: Kultur über die Grenze hinweg

Tagungsleitung: Wolfgang Homburger, Wolfgang Kramer, Dr. R. Johanna Regnath, Prof. Dr. Jörg Stadelbauer

Das Tagungsprogramm als PDF zum Download